Ein Blumenmeer im Kampf gegen die Nachhaltigkeitskrisen

Dieser Blog-Artikel wurde ursprünglich von Mareike Andert auf dem Blog des Instituts für Sozial-Ökologische Systeme (SESI) der Leuphana Universität veröffentlicht, den Sie hier finden können.

Vicky Temperton, Mitglied des SESI und Vollmitglied des Instituts für Ökologie, spricht in diesem Beitrag über ihre Leidenschaft für Grünland und darüber, wie Grünland zur Abschwächung der Klimakrise und zur Anpassung an diese beitragen kann. Kürzlich wurde sie in den Beirat für natürliche Klimalösungen berufen, um das Umweltministerium und die Bundesregierung mit ihrer Expertise zu beraten. Sie promovierte über Bäume unter den Bedingungen des Klimawandels, wechselte dann aber zur Grünlandforschung, weil sie in diesem Bereich mehr Potenzial für die Bekämpfung der Nachhaltigkeitskrisen sieht.

Vicky, du widmest dem Grünland viel Zeit und Forschung. Warum?

Es gibt eine persönliche und eine weiter gefasste Antwort darauf. Ich bin in Luxemburg aufgewachsen, in unmittelbarer Nähe von Grünland, hauptsächlich Wiesen, aber auch Weiden mit Kühen. Und ich bin auch in der Nähe von Wäldern aufgewachsen. Für mich ist eine natürliche Landschaft eine vielfältige Landschaft: artenreiches Grünland und artenreiche Wälder. Meine Nachbarin zum Beispiel, sie kam aus Italien, ging mit mir auf die Wiesen und wir sammelten Champignons. Ich habe dort auch Fußball gespielt. So habe ich also von klein auf diese relationalen Werte, diese Verbindung zum Grünland, mitbekommen. Das Grünland war einfach der Ort, an dem ich lebte und war und ist für mich von enormer Bedeutung.

Was ist die breitere Antwort auf deine Leidenschaft für Grünland?

Ich habe über Bäume promoviert, aber danach habe ich mich als Postdoc in Jena mit degradiertem Grünland beschäftigt und mit der Frage, wie es sich nach der Verschmutzung durch die größte Düngemittelfabrik für Phosphor in der DDR erholt. Grünland bedeckt etwa ein Drittel bis 40% der Erde und ist somit überall zu finden. Grünland leistet einen enormen Beitrag zur biologischen Vielfalt, zumindest früher, und einen enormen Beitrag zum Funktionieren von Systemen und Landschaften und ihren Ökosystemdienstleistungen.

Warum ist Grünland so wichtig?

Die meisten der Pflanzenarten, die wir derzeit verlieren (die auf der Roten Liste der gefährdeten Arten stehen), sind zum Beispiel in Deutschland Arten, die in Grünland beheimatet sind. Unsere Studie (Staude et al. 2023) untersuchte die Arten auf der Roten Liste und fand heraus, dass 82% dieser Arten viel Licht und 61% wenig Stickstoff benötigen. Bevor wir uns die Daten angeschaut hatten, hätte ich gesagt, dass der Stickstoff der Hauptgrund für den Verlust der biologischen Vielfalt ist. Aber in Wirklichkeit geht es noch stärker um den Faktor Licht. Das war schockierend für mich und hat mir die Augen geöffnet.

Menschen und andere Tiere haben seit Jahrtausenden mit Grünland gelebt. Neuere Forschungen haben ergeben, dass die Vorstellung, dass die gesamte Landschaft vor dem Menschen nur aus Wald bestand, wahrscheinlich nicht richtig ist. Da es in der Zeit nach der letzten Eiszeit mehr und größere Herbivoren (Pflanzenfresser) gab, ähnelte das so genannte „gemäßigte Waldbiom“ wahrscheinlich vielerorts sowohl Waldwiesen und -weiden als auch dichteren Wäldern. Pearce et al. (2023) haben mit ihren jüngsten paneuropäischen Pollenstudien gezeigt, dass die Offenheit und Dunkelheit dessen, was wir als Wald bezeichnen, im Laufe der Zeit sehr dynamisch war. Dies wirkt sich darauf aus, was wir als die besten Referenzbedingungen oder Ziele für die Erhaltung oder Renaturierung ansehen.

Grünland ist wichtig für die Menschen. Es gibt jetzt eine globale Grünland-Dialogplattform, die vom WWF (World Wide Fund for Nature) betrieben wird und in der ich Mitglied bin. Wir setzen uns dafür ein, weil wir das Gefühl haben, dass dieser Lebensraum vernachlässigt wird und nicht die Aufmerksamkeit erhält, die er verdient, wenn man bedenkt, dass er mindestens ein Drittel des Planeten bedeckt und die Grundlage für viele Hirt*innenkulturen und Weidegemeinschaften bildet. Die Menschen sehen oder schätzen das Grünland nicht genug. Das zeigt sich auch in der aktuellen Wissenschaftspolitik. Es ist fast eine Analogie dazu, dass unsere Gesellschaft nur Männer berücksichtigt, nicht aber Frauen und andere Geschlechter, obwohl diese ebenfalls einen großen Teil der Gesellschaft ausmachen.

Hast du ein Beispiel für die Vernachlässigung von Grünland?

Die Aktion Natürlicher Klimaschutz (ANK) der Bundesregierung ist die größte Umweltförderung, die jemals vom deutschen Parlament kam, und dennoch werden Grünlandflächen in der Programmbeschreibung nicht explizit erwähnt: Analog zu ihrem „Verschwinden“ unter den Worten Landwirtschaft, Weideland oder Ackerland, sind sie implizit im Kapitel über Moore enthalten (aber diese Lebensräume sind nur eine Form von Grünland, wenn auch diejenige, die bei weitem am meisten Kohlenstoff speichern kann), sowie in städtischen Grünflächen und im Kapitel über Böden inbegriffen. Niemand hielt Grünland für wichtig genug, um diesem Ökosystem ein eigenes Kapitel zu widmen – das könnte man auch als „Grünland-Blindheit“ bezeichnen. Ich frage mich, warum wir als Gesellschaft so „Grünland-blind“ sind, wo wir doch wissen, dass wir viel mehr in die Wiederherstellung von artenreichem Grünland investieren sollten, um der Biodiversitätskrise in Deutschland (und anderswo) zu begegnen.

Für mich bedeutet Grünland, dass Menschen darin oder drum herum leben, oft mit ihrem Vieh oder mit Wildtieren, und es bewirtschaften – anders kann man es nicht offenhalten, es sei denn, es ist sehr trocken oder sehr nass, oder man führt große Herbivoren wieder ein.

Einheimische Orchideenarten auf einer Wiese in Norddeutschland. Quelle: Alina Twerski
Das bedeutet, dass es bei der Wahrnehmung von Grünland auch darum geht, ob man den Menschen als Teil der Natur sieht oder ob man ihn separat betrachtet…

…ja, und das Ironische daran ist, dass die Leute über den Wald als das einzig Natürliche reden, aber dann reden sie über etwas wie eine Kiefernmonokultur. Inwiefern ist das natürlich? Das ist völlig absurd. Wir haben scheinbar die tiefverwurzelte Annahme, dass alles Wald sein sollte und dies der natürliche Zustand sei – und dass Grünland im Grunde nur ein degradierter Wald sei. Aber dabei haben wir die großen Herbivoren vergessen. Diese waren in der Vergangenheit viel dominanter, und sie hielten die Landschaft viel offener – wie auch Feuer.  

Die Vorstellung vom Natürlichen ist sehr wichtig. Die Leute denken oft, dass alles, was natürlich ist, der Wald ist. Für mich hingegen ist es beides, Grünland und Wald – so wie ich es bereits in meiner Geschichte über mein Aufwachsen in Luxemburg erzählt habe. Grünland gab es schon vor dem Menschen und es war ein wichtiger Bestandteil der Landschaft (Pearce et al. 2023). 

Wälder gelten als wichtig für die Eindämmung des Klimawandels. Was ist mit Grünland?

Das Hauptaugenmerk liegt auf Bäumen und dem Pflanzen von Bäumen. Aber Moore, Torfgebiete – das sind Graslandschaften – speichern viel mehr Kohlenstoff als der Wald. Glücklicherweise hat Deutschland das jetzt irgendwie verstanden. Deshalb bin ich nun Mitglied des Beirats der Bundesregierung, der sich mit natürlichen Klimalösungen befasst und in dem vor allem Moore, aber auch Wälder, städtische Gebiete, Böden und die Meeresumwelt eine wichtige Rolle spielen.

Wenn man Moore richtig wiederherstellt und den Grundwasserspiegel auf dem richtigen Niveau hält, kann man enorme Mengen an Kohlenstoff speichern. Darüber hinaus hat eine Studie aus Kalifornien (Dass et al. 2018) herausgefunden, dass bei einem Business-as-usual Klimaszenario das Grünland der einzige verbleibende Lebensraum sein wird, der eine Kohlenstoffsenke bleibt und nicht zu einer Nettoquelle wird. Vielleicht haben Graslandschaften immer weniger Aufmerksamkeit erhalten, weil sie oft als degradierte Wälder betrachtet werden, aber Studien wie Pearce et al. (2023) oder die Wald-Weide-Hypothese stimmen nicht mit dieser Ansicht überein.

Wenn wir einfach nur Bäume pflanzen, denken wir nicht daran, dass es aufgrund des Klimawandels mehr Brände geben wird oder mehr erfolgreiche Schädlingsangriffe, da die Bäume durch den Klimawandel geschwächt werden. Die riesigen Jarrah-Bäume (Eucalyptus regnans) in Westaustralien sind Schlüsselarten für diesen wunderbaren Lebensraum, der nach dem Bergbau erfolgreich wiederhergestellt wurde, aber die großen Bäume beginnen nach den Temperaturen von über 40°C in der letzten Zeit zu sterben. Wir müssen diese Triebkräfte des Wandels in unsere Reaktion auf den globalen Wandel einbeziehen. Wir leben nicht mehr in einer relativ stabilen Welt, was die abiotischen Bedingungen angeht. Wenn wir also versuchen, den Klimawandel abzuschwächen, müssen wir die Rolle der sich bereits verändernden Umweltbedingungen berücksichtigen. Außerdem sterben Bäume oft ohnehin ab, weil sie sich nicht gut etablieren (in der Regel sterben etwa 30% der Bäume nach der Pflanzung ab, wenn sie nicht sehr gut gepflegt werden). Und nach einem Brand ist der Kohlenstoff wieder in der Atmosphäre.

Deshalb müssen wir den Kohlenstoff unter die Erde bringen, egal ob es sich um einen Wald, ein Moor oder eine Savanne handelt. Grünland hat viel Pflanzenmaterial, Wurzeln, unter der Erde, was sehr gut für die Kohlenstoffspeicherung ist, insbesondere für die längerfristige Speicherung. Ich denke, das ist die Forschung, die jetzt wirklich wichtig ist: Herauszufinden, wann und wie lange Grünland Kohlenstoff speichern kann, und dies mit verschiedenen Lebensraumtypen zu vergleichen – inwieweit wir dort biologische Vielfalt und Kohlenstoff haben, und welche Bewirtschaftungsmaßnahmen zu welchen Ergebnissen führen.

Was genau erforscht du?

Die große Frage in unserem Grassworks Projekt ist, was zum Erfolg bei der Wiederherstellung von Grünland führt. Wir untersuchen drei Regionen: Nord-, Ost- und Süddeutschland mit verschiedenen Partner:innen und wir haben uns über 180 bereits renaturierte Flächen angesehen. Es war eine verrückte Aufgabe, denn die Feldarbeit dauerte zwei Jahre. Wir betrachten die Flächen aus ökologischer, sozialer und sozial-ökologischer Perspektive. Wir untersuchen die Ökonomie des Grünlands, die Wertesysteme, die Hebelpunkte für Veränderungen sowie die ökologischen Ergebnisse. Einige der Standorte wurden zuvor als Grünland bewirtschaftet, andere als Ackerland, einige wurden über einen längeren Zeitraum renaturiert, andere über einen kürzeren. Wir haben diese verschiedenen Faktoren und es ist ein bisschen wie ein riesiges Landschaftsexperiment in ganz Deutschland. Wir bekommen jetzt endlich die Ergebnisse, und ich kann noch nicht allzu viel sagen, außer dass es für die Vegetation so aussieht, als ob die beste Option für den ökologischen Erfolg in Bezug auf Pflanzen entweder die direkte Heuübertragung oder die Aussaat von Wildsameneinmischungen ist, wenn eine Weide wiederhergestellt werden soll. Aber die Antwort hängt auch davon ab, welche positive Referenzfläche man verwendet – und die Qualität dieser positiven Flächen variiert stark in Deutschland.

Die andere Forschungsarbeit, die ich zum Thema Grünland betreibe, hat viel mit Geschichte zu tun: Spielt es eine Rolle, wer zuerst und wer später in einen Lebensraum kommt? Das ist die Forschung zu „Priority Effects“. Das ist sehr interessant, weil man es eigentlich nicht erwarten würde, aber es kann sehr große Auswirkungen auf die Produktivität und die Artenvielfalt haben, wenn sich bestimmte Pflanzenarten vor anderen etablieren. In diesem Experiment in der Lüneburger Heide, das POEM – Priority Effect Mechanisms heißt, säen wir entweder zuerst die Gräser und dann später die anderen Gruppen wie Kräuter (Zierpflanzen) und Leguminosen (Hülsenfrüchte, z. B. Klee) oder andersherum. Und dann haben wir auch noch eine gleichzeitige Behandlung, wie sie bei derzeitigen Renaturierungsmaßnahmen üblich ist. Das Timing hat Auswirkungen auf die Wurzeln. Wir haben festgestellt, dass die Wurzeln erstaunlicherweise tiefer gehen, wenn man die Leguminosen zuerst einsetzt. Und wir wissen nicht, warum. Wir versuchen jetzt herauszufinden, wie beständig dieser Effekt ist und ob wir diesen Effekt bei verschiedenen Experimenten immer wieder finden. Denn wenn wir diesen Effekt nachahmen können, dann könnten wir vielleicht Graslandschaften schaffen, die besser an die Trockenheit angepasst sind, weil sie tiefere Wurzeln haben und so besser in der Lage sind, unter Trockenheitsbedingungen Wasser zu finden.

Grünland bei Garlstorf an der Elbe. Quelle: Alina Twerski
Was möchtest du in Zukunft untersuchen?

Ich möchte mich weiter in den Zusammenhang von biologischer Vielfalt und Kohlenstoffspeicherung von Grünland vertiefen: Was führt zu einer besseren Kohlenstoffspeicherung? Wie kann man den zusätzlichen Kohlenstoff in den Boden bringen? Bleibt er dort? Zurzeit gibt es dazu widersprüchliche Forschungsergebnisse. Und welche Rolle spielt die Artenvielfalt dabei? Wird der meiste Kohlenstoff an den Standorten mit der größten biologischen Vielfalt gespeichert oder nicht? Das weiß noch niemand so genau, denn es ist eine riesige und schwierige Aufgabe, dies zu analysieren, weil die Böden so unglaublich heterogen sind. Jedes Gebiet wird davon beeinflusst, was dort in der Vergangenheit gewachsen ist. Jüngste Forschungen des Thünen-Instituts für klimagerechte Landwirtschaft (Gruppe von Axel Don) zur Bodenheterogenität zeigen, dass sich Böden innerhalb weniger Meter überraschend stark unterscheiden können. Der darunter liegende Gesteinsuntergrund ist meist ähnlich. Das zeigt, welchen Einfluss die Organismen haben, Bodenstrukturen zu verändern.

Außerdem möchte ich meine Arbeit zu den sozial-ökologischen Aspekten erfolgreicher Renaturierung ausweiten. Der größte Engpass bei der Wiederherstellung von Grünland oder der biologischen Vielfalt von Grünland ist, dass es nicht genug Wertschätzung und Anreize gibt, artenreiches Grünland zu erhalten oder neu zu schaffen, insbesondere für Landwirt:innen. Es geht also auch darum, die Landwirt:innen zu motivieren, artenreiches Grünland zu schaffen – indem sie Geld und Wertschätzung von der Gesellschaft dafür erhalten, dass sie eine umweltfreundliche Landwirtschaft betreiben und damit eine Beitrag zum Klimaschutz und zur Anpassung an den Klimawandel leisten und der Biodiversitätskrise begegnen. Im Moment gibt es nicht viele Anreize.

Wir haben einmal Landwirt:innen in der Lüneburger Heide befragt, was sie davon abhält, mehr von den Grünungsprogrammen der GAP (Gemeinsame Agrarpolitik der EU) umzusetzen oder die Subventionen für diese Arten von Maßnahmen zu bekommen. Wir hatten die Hypothese, dass der Grund, warum sie es nicht tun, der hohe bürokratische Aufwand ist. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass es eigentlich das ist, was die anderen tun. Sie schauen sich also gegenseitig an und entscheiden, was sie auf der Grundlage ihrer Mitmenschen tun. Und das zeigt auch einen Hebelpunkt für Veränderung auf.

Was sollte die Politik tun?

Ich hoffe, dass wir nach Abschluss des Grassworks Projekts einige konkrete Empfehlungen geben können. Ich denke, dass finanzielle Anreize eine große Rolle spielen könnten, aber auch die Hebelwirkung in Bezug auf Verbindungen und emotionale Werte. Ich denke, wenn die Menschen diese Art von Biodiversität mehr erleben, wenn sie daran gewöhnt sind und sie in der Landschaft sehen sowie all die Vorteile kenne, die daraus resultieren, dann denke ich, dass sie mehr daran interessiert wären, sie zu retten oder wiederherzustellen.

Interview von Mareike Andert


Lesen Sie hier mehr über Grünland:

Dass, Pawlok et al. (2018): Grasslands may be more reliable carbon sinks than forests in California. Environ. Res. Lett. 13 074027. DOI: 10.1088/1748-9326/aacb39.

Pearce, Elena A. et al. (2023): Substantial light woodland and open vegetation characterized the temperate forest biome before Homo sapiens. Sci. Adv. 9. DOI: 10.1126/sciadv.adi9135.

Staude, Ingmar R. (2023): Prioritize grassland restoration to bend the curve of biodiversity loss. Restoration Ecology, 31, 5. DOI: https://doi.org/10.1111/rec.13931

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