Angesichts des zunehmenden Biodiversitätsverlusts und der Degradierung von Ökosystemen ist ökologische Renaturierung wichtiger denn je. Genauer gesagt: eine effektive und resiliente Renaturierung. Aus ökologischer Sicht ist dabei nicht nur entscheidend, welche Arten etabliert werden, sondern auch wann und in welcher Reihenfolge. Eine aktuelle Studie von Alonso-Crespo und Kolleg*innen – unter anderem mit Vicky Temperton vom Institut für Ökologie der Leuphana Universität – untersucht, wie das Timing der Artenansiedlung und die Wetterbedingungen zu Beginn eines Renaturierungsvorhabens die langfristige Dynamik von Graslandökosystemen beeinflussen.
Die Studie präsentiert erste Ergebnisse des Langzeitfeldexperiments zu PriOrity Effect Mechanisms (POEM), das 2020 initiiert wurde. Ziel ist es, zu untersuchen, wie Prioritäts- und Jahreseffekte die Struktur und Funktion nährstoffarmer, saurer Graslandpflanzengemeinschaften im Verlauf der Zeit beeinflussen – sowohl ober- als auch unterirdisch.
Info: Prioritätseffekte
„Prioritätseffekte treten auf, wenn Arten, die früher ankommen und sich etablieren, die Ansiedlung und den Erfolg später eintreffender Arten stark beeinflussen können – mitunter auch in Bezug auf Ökosystemfunktionen. Sie können zu alternativen Vegetationszuständen führen und spielen daher möglicherweise eine zentrale Rolle im Naturschutz.“
Das POEM-Experiment
Auf einem ehemaligen Ackerstandort in Niederhaverbeck in Norddeutschland richtete das Forschungsteam 2020 das POEM-Feldexperiment ein. Es handelt sich um ein mehrjähriges, repliziertes Experiment, in dem unterschiedliche Aussaatabfolgen von Pflanzlich-funktionellen Gruppen (PFGs) – Gräser, Kräuter (Forbs) und Leguminosen – getestet werden. Um Jahreseffekte abzubilden, wurden die Behandlungsplots in verschiedenen Jahren etabliert. Mittels transparenter Röhren, sogenannter Minirhizotrons, und einem Kamerasystem wurde das Wurzelwachstum über drei Jahre hinweg dokumentiert – ohne eine einzige Pflanze auszugraben.

Erkenntnisse mit Tiefgang
Die ersten Ergebnisse dieses Langzeitexperiments sind bereits jetzt sehr aufschlussreich: Zunächst stellten die Forschenden fest, dass die Zeit seit der Etablierung der stärkste Einflussfaktor auf die Zusammensetzung der Pflanzengemeinschaft war – noch vor der Reihenfolge der funktionellen Gruppen (PFGs) oder dem Jahr der Etablierung. Die Artenvielfalt und Diversität wurde durch die Reihenfolge der Aussaat beeinflusst – und entwickelte sich über die Zeit weiter, wobei auch das Aussaatjahr eine Rolle spielte. Plots, in denen Gräser zuerst ausgesät wurden, wiesen eine geringere Diversität auf – wahrscheinlich durch ihre Dominanz (z.B. Bromus hordeaceus; Weiche Trespe).
Während sich die unterirdische Produktivität (Gesamtwurzelbiomasse/-dichte) nicht signifikant zwischen den Behandlungen unterschied, war die vertikale Verteilung der Wurzeln deutlich verschieden: Gemeinschaften, in denen Kräuter oder Leguminosen zuerst ausgesät wurden, wuchsen deutlich tiefer in den Boden als Gemeinschaften mit einer frühen Gräseraussaat. Diese Erkenntnisse könnten, wenn sie auch in anderen Graslandschaften zu finden sind, ein nützlicher Weg sein, um Pflanzengemeinschaften mit tieferen Wurzeln zu schaffen, die besser an Dürren angepasst sind. Weitere Forschungen im dritten POEM-Experiment (das im Jahr 2025 eingerichtet wird) werden diese Frage untersuchen. Hier werden Minirhizotronen im Boden installiert, mit denen die Forscher prüfen können, ob es einen wiederholbaren Effekt der Reihenfolge der Ankunft auf die Wurzelverteilung gibt. Ähnliche Ergebnisse in einem kontrollierten Experiment (Alonso-Crospo et al. 2022 Oikos) sind vielversprechend, aber die Forschenden müssen sich die Mühe machen, dasselbe Experiment noch einmal auf dem Feld durchzuführen, um zu wissen, inwieweit diese Ergebnisse verallgemeinerbar sind.
Die oberirdische Produktivität hingegen wurde vor allem durch das Aussaatjahr beeinflusst: Plots, die 2020 etabliert wurden, waren produktiver als jene von 2021 – wahrscheinlich aufgrund günstigerer Wetterbedingungen im ersten Jahr. Das zeigt: Das Jahr der Aussaat – als Spiegel wechselnder Umweltbedingungen – hat großen Einfluss auf die anfängliche Entwicklung der Pflanzengemeinschaft.
Folgerungen über das Experiment hinaus
Da die ökologische Renaturierung zunehmend als Schlüsselmaßnahme für Biodiversitäts- und Klimaschutz gesehen wird, sind differenzierte Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen essenziell. Das POEM-Experiment liefert genau solche und wird weiterhin untersuchen, wie ökologische Vorgeschichte, Prioritätseffekte, funktionelle Merkmale und Wetterbedingungen miteinander wechselwirken und die Wiederherstellung von Ökosystemen prägen.
Für die Praxis ergeben sich bereits jetzt wichtige Hinweise: Zum Beispiel zeigt sich, dass Witterungsbedingungen im Etablierungsjahr die Produktivität stark beeinflussen – was nahelegt, dass Aussaaten möglichst auf günstige Zeitfenster abgestimmt werden sollten. Die durch frühe Aussaat von Kräutern oder Leguminosen entstehenden tiefwurzelnden Pflanzengemeinschaften könnten in degradierten Böden die Bodenstabilität erhöhen, die Wasserversorgung verbessern und längerfristig bestehen bleiben. Gerade im Angesicht zunehmender Trockenperioden ist ihre Stabilität und Resilienz besonders wertvoll. Außerdem tragen tiefreichende Wurzeln verstärkt zu langfristigen Kohlenstoffspeichern im Boden bei – ein zentraler Aspekt sogenannter „Natural Climate Solutions“.
Ökologische Experimente wie dieses, die auf den ersten Blick rein wissenschaftlich erscheinen, haben also eine hohe praktische Relevanz – besonders in Zeiten sich überlagernder ökologischer Krisen.
Link zur Studie: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/jvs.70026
Interesse an Prioritätseffekten geweckt? Hier unserer Beitrag zu : Barrieren abbauen: Ein Aufruf zur Kohäsion bei Studien über Prioritätseffekte – Ökologische Forschung der Leuphana Universität Lüneburg