Dry cracked open soil with very sparse vegetation / Trockener, aufgerissener Erdboden mit kümmerlicher Vegetation.

Warum Renaturierung einen neuen Fokus braucht: Eine Perspektive, die für viele überraschend sein mag – und das ist das Problem

Woran denken Sie, wenn es um die Wiederherstellung der biologischen Vielfalt geht? Wie sieht die beste natürliche Lösung aus, um dem Biodiversitätsverlust und dem Klimawandel entgegenzuwirken? Bitte denken Sie einen Moment darüber nach, bevor Sie weiterlesen.

Was kam Ihnen in den Sinn? Haben Sie vor Ihrem inneren Auge vielleicht das Bild eines schönen Waldes gesehen? Ein üppig grünes Blätterdach aus majestätischen Bäumen, deren wundersame Blätter das Sonnenlicht nutzen, um Wasser und CO2 durch Photosynthese in Kohlenhydrate umzuwandeln, dabei Kohlenstoff binden und im Gegenzug Sauerstoff an die Luft abgeben? Ich könnte das sehr gut nachvollziehen – wahrscheinlich können das die meisten Menschen. Bäume und Wälder können großartige natürliche Klimalösungen sein und eine Heimat für viele Arten bieten, daher sind sie selbstverständlich sehr wertvolle Ökosysteme. Aber wie kommt es, dass wir hier oft ausschließlich an Wälder denken? Nur an Bäume, die Photosynthese betreiben, obwohl alle Pflanzen dazu in der Lage sind? Könnte es sein, dass wir etwas übersehen? Laut Staude und Kolleg*innen lautet die kurze Antwort: Ja.

Wir könnten mehr als drei Viertel der bedrohten Pflanzenarten schützen, wenn wir die Prioritäten bei der Wiederherstellung verschieben würden

Ja, wir übersehen etwas. Etwas, das eigentlich viel zu groß ist, um es zu übersehen, wie die Wissenschaftler*innen Ingmar Staude und Kolleg*innen (2023), darunter Vicky Temperton und Emanuela Weidlich vom Institut für Ökologie der Leuphana, herausgefunden haben: 82 % aller gefährdeten Pflanzenarten in Deutschland kommen in lichtreichen Ökosystemen wie Grünland vor, und nur 1 % in schattigen Ökosystemen wie Wäldern (siehe Abbildung unten). Und bei dieser Zahl wird deutlich, dass es ein Problem gibt: Obwohl es inzwischen allgemein anerkannt ist, dass die Wiederherstellung von Ökosystemen in unserer Zeit des zunehmenden Artenverlusts und des Klimawandels von entscheidender Bedeutung ist, werden solche Renaturierungsbemühungen gemeinhin mit dem Pflanzen von Bäumen und der Renaturierung von Wäldern gleichgesetzt – nicht nur von uns, sondern auch von politischen Entscheidungsträger*innen. Betrachtet man jedoch die Daten aus Deutschland (aber auch zunehmend aus anderen Regionen der Welt), so stellt man fest, dass die am stärksten bedrohten Arten häufig aus offenen grasreichen Lebensräumen oder Biomen stammen (Hoekstra et al. 2004, Jandt et al. 2022, Staude et al. 2023). Der Naturschutz, einschließlich der Renaturierungspraxis und -politik, konzentriert sich dahingegen weltweit häufig stark auf Wälder und vernachlässigt dabei meist offene grasreiche Ökosysteme (Grünland, Savannen, Strauchland), die nicht ausreichend finanziert oder geschützt werden. Obgleich kohlenstoffreiche Torfmoore allmählich auch die Aufmerksamkeit erhalten, die sie als der Lebensraum, der bei weitem die größte Menge an Kohlenstoff speichern kann, verdienen (Torfmoore bedecken etwa 3 % der Erde, können aber mehr als die doppelte Menge an Kohlenstoff speichern wie Wälder).

Balkendiagramm zeigt niedrigen Balken mit 1 % der gefährdeten Pflanzenarten Deutschlands, die in schattigen Lebensräumen wie Wäldern vorkommen. Hoher Balken zeigt 82 % gefährdete Pflanzenarten aus lichtreichen Lebensräumen wie Wiesen.
Das Balkendiagramm zeigt den Anteil der gefährdeten Pflanzenarten in Deutschland in Relation zu ihrem Lebensraumtyp auf Basis der Lichtverfügbarkeit (nach Staude et al. 2023).

Wie sind die Wissenschaftler*innen zu diesen Zahlen gekommen?

Für ihre Analyse kombinierten Staude und Kolleg*innen Vegetationsdaten aus der sPLOT-Datenbank für Pflanzendaten in ganz Deutschland im Laufe der Zeit mit Ellenberg-Indikatorwerten. Ellenberg-Indikatorwerte charakterisieren Arten anhand verschiedener Lebensraumparameter wie Lichtverfügbarkeit, Temperatur und Nährstoffgehalt des Bodens. Auf diese Weise konnten sie feststellen, inwieweit die Arten, deren Vorkommen im letzten Jahrhundert zurückgegangen ist, mit verschiedenen Lebensraumtypen (Grünland, Wald, Strauchland) in Verbindung stehen. Ziel dieser Analyse war es, zu untersuchen, wie der Bedrohungsstatus der gefährdeten Pflanzenarten mit ihren Nischen (den spezifischen Umweltfaktoren, die den Lebensraum der Arten ausmachen) zusammenhängt und wie sich dieser entwickelt hat. Hierfür wurden die Ellenberg-Lichtwerte gewählt, die den Lichtbedarf der Pflanzenarten darstellen, da grasige Ökosysteme im Gegensatz zu Wäldern, die im Allgemeinen schattige Lebensräume sind, viel Licht für ihre Pflanzen bieten. Der sich daraus ergebende Gefährdungsstatus nach Lichtbedarf wurde auch mit dem Gefährdungsstatus nach Nährstoffbedarf verglichen, da hohe Nährstoffeinträge, hauptsächlich durch die Intensivierung der Landwirtschaft verursacht, bekanntermaßen ein Hauptfaktor für den Artenverlust sind.

Diese Analyse ergab die eingangs erwähnten Werte: 82 % aller rotgelisteten Pflanzenarten in Deutschland benötigen lichtreiche Lebensräume, noch mehr als die 61 %, die nährstoffarme Lebensräume benötigen – wobei dieses Nährstoffproblem wohlbekannt ist. Jede zweite Pflanzenart in Deutschland, die viel Licht oder nährstoffarme Böden benötigen, ist gefährdet, und die Tendenz ist steigend. Staude und Kollegen betonen, dass dies nicht nur in Deutschland der Fall ist, sondern dass diese Ergebnisse gut auf andere Regionen in Europa und darüber hinaus übertragbar sind, was sie mit einer Fallstudie aus Südbrasilien untermauern, die zu ähnlichen Ergebnissen kommt.

Eine Frage der Perspektive

Aber warum denken wir und politische Entscheidungsträger*innen dann typischerweise an Renaturierung von Wäldern, wenn es um die Erhaltung und Wiederherstellung der biologischen Vielfalt geht? Staude und Kolleg*innen sehen und diskutieren hier zwei Hauptgründe.

Erstens führt die vorherrschende Vorstellung von Wäldern als die natürliche Vegetation Mitteleuropas dazu, dass Menschen diesen Zustand der vermeintlichen Unberührtheit gegenüber Ökosystemen wie Grünland bevorzugen. Demnach wäre Grünland ein degradiertes Ökosystem. Diese Theorie ist jedoch seit langem Gegenstand von Diskussionen, wobei aktuelle Belege (Pearce et al. 2023) darauf hindeuten, dass die historische Landschaft eher vielfältigere, mosaikartige Vegetationsstrukturen aufwies, wobei große Teile sehr offen gewesen sind (ähnlich wie bei Waldweiden), wie Staude und Kolleg*innen erklären.

Zweitens werden die Erhaltung der biologischen Vielfalt und die Eindämmung des Klimawandels in der Regel mit der Bindung von Kohlenstoff gleichgesetzt, und da Wälder oberirdisch große Mengen an Kohlenstoff binden, können sie in dieser Hinsicht eine sehr wirksame natürliche Lösung für den Klimawandel darstellen. Unterirdisch speichern sie jedoch nicht unbedingt mehr Kohlenstoff als andere Lebensräume. Integrierte Messungen der unterirdischen Kohlenstoffspeicherung und -bindung in verschiedenen Lebensräumen sind jedoch selten und müssen dringend in integrierten wissenschaftlichen Studien untersucht werden, um faktengestützte Empfehlungen für Maßnahmen in den Bereichen biologische Vielfalt und Klimawandel zu ermöglichen. Es gibt Belege dafür, dass Grünland unterirdisch genauso viel Kohlenstoff speichern kann wie Wälder, und durch seinen Albedo-Effekt und seine hohe Widerstandsfähigkeit gegenüber extremen Wetterereignissen, auf die beide im nächsten Abschnitt näher eingegangen wird, ein wirkungsvolles Instrument darstellt, um den zahlreichen Herausforderungen zu begegnen, die im Zusammenhang mit dem Klimawandel und der Biodiversitätskrise auf uns einprasseln, wie Staude et al. erläutern.

Beide diese vorherrschenden Auffassungen über Wälder führen den Autor*innen zufolge dazu, dass sich viel stärker auf die Renaturierung von Wäldern konzentriert und in diese investiert wird, während traditionell bewirtschaftetes Grünland von hohem Naturwert (mit seiner enormen Artenvielfalt) fast lautlos aus unseren Kulturlandschaften verschwunden ist, und mit ihm eine Unmenge von Bestäubern.

Grünland gegen den Klimawandel?

Darüber hinaus argumentieren Staude und Kolleg*innen, dass es auch gute Gründe gibt, Grünland aus Gründen des Klimaschutzes und der Klimaanpassung mehr Aufmerksamkeit zu schenken, wie bereits oben angedeutet. Grünland kann zwar oberirdisch nicht so viel Kohlenstoff binden wie Wald, aber unterirdisch ebenfalls große Mengen an Kohlenstoff speichern. Diese Kohlenstoffspeicher sind insgesamt widerstandsfähiger gegen extreme Wetterereignisse wie Brände und Dürren, die aufgrund des Klimawandels voraussichtlich zunehmen werden. Folglich würde der gebundene Kohlenstoff in solchen Grasökosystemen länger gespeichert bleiben. Nach Staude und Kolleg*innen ist dies auf ihre lange Geschichte und ihre Koevolution mit starken Störungen wie häufigen und regelmäßigen Bränden, Trockenheit und Beweidung zurückzuführen. Demgegenüber besteht in einigen Regionen bereits die Gefahr, dass Wälder aufgrund des extremen Hitze- und Trockenstresses, dem die Bäume ausgesetzt sind und der zu einem erhöhten Baumsterben führt, bald zu Kohlenstoffquellen werden. Gleichzeitig könnte die Fähigkeit von Grünland, Kohlenstoff zu speichern, durch die Anwendung (und Erforschung) einer optimalen Grünlandbewirtschaftung zur Förderung der Artenvielfalt sowie der Kohlenstoffbindung und -speicherung noch gesteigert werden.

Dennoch ist mehr Kohlenstoffbindung nicht gleichbedeutend mit einer stärkeren Klimaabkühlung. Deshalb lenken Staude und seine Kolleg*innen die Aufmerksamkeit auch auf andere Faktoren, die sich auf die globale Erwärmung auswirken, wie z. B. den Albedo-Effekt von Grünland und Wäldern. Der Albedo-Effekt beschreibt die Fähigkeit einer Oberfläche, die auf sie einfallenden Sonnenstrahlen zu reflektieren. Eine helle Oberfläche reflektiert viele Sonnenstrahlen und bleibt kühl, während eine dunkle Oberfläche mehr Sonnenstrahlen absorbiert und sich aufheizt (man kann den Unterschied spüren, wenn man an einem sonnigen Sommertag barfuß auf einer Wiese und auf einer Straße läuft, siehe Abbildung unten). Folglich absorbiert ein Wald mit seinem eher dunklen Blätterdach mehr Sonnenstrahlung als eine hellere Wiese, sodass ein Waldgebiet das lokale Klima stärker erwärmt als eine Wiese. Daher argumentieren Staude und seine Kolleg*innen, dass Grünland neben Wäldern eine wichtige ergänzende Rolle bei der Bewältigung des Klimawandels spielen könnte und mehr Aufmerksamkeit verdient. Gleichzeitig macht die Studie deutlich, dass wir uns auf die Wiederherstellung von artenreichem Grünland in Deutschland und vielen anderen gemäßigten Regionen (vielleicht auch außerhalb der gemäßigten Biome) konzentrieren sollten, wenn wir die Biodiversitätskurve abflachen wollen.

Die Abbildung zeigt links einen Wald und rechts eine Wiese. Der unterirdische Kohlenstoffspeicher des Waldes hat kein Schloss-Symbol, der unterirdische Kohlenstoffspeicher der Wiese hingegen schon. Gelben Pfeile, die auf den Wald zeigen, sind durchgehend dick und nur ein dünner Pfeil geht zurück, während der Pfeil, der auf die Wiese zeigt, am Ende dünn ist und der dickere davon zurückgehende Pfeil nach oben in den Himmel zeigt. Über dem Wald sind graue Gasblasen, auf denen CO2 steht, dargestellt.
Diese Abbildung zeigt die potenziellen Vorteile von Grünland im Hinblick auf den Klimaschutz und Klimaanpassung im Vergleich zu Wäldern, die in der Studie von Staude et al. (2023) erwähnt werden: Unterschiede in der Widerstandsfähigkeit der unterirdischen Kohlenstoff (C) -Speicherung (gekennzeichnet durch ein Schloss), mögliche Ausgasung von stark trockengestressten Wäldern (gekennzeichnet durch Gasblasen) und Albedo (Sonnenstrahlen gekennzeichnet durch gelbe Pfeile).

Alles auf einmal – Grünlandrenaturierung zur Erhaltung der biologischen Vielfalt, zur Eindämmung des Klimawandels und zur Klimawandelanpassung

Wenn es um den Schutz der biologischen Vielfalt und die Eindämmung des Klimawandels geht, kommen Staude und seine Kolleg*innen zu dem Schluss, dass Grünland bei der Renaturierung viel stärker berücksichtigt werden sollte und das Potenzial hat, zu einem Dreh- und Angelpunkt bei der Bewältigung der Biodiversitäts- und Klimakrise zu werden. Darüber hinaus sollte Waldrenaturierung nicht auf Kosten wertvoller Grünlandflächen erfolgen, die eine große biologische Vielfalt beherbergen, aber auch unsere beste Chance sind, den Kohlenstoff im Boden zu halten, wenn sich das Klima weiter erwärmt. Sie betonen auch, dass sie Wäldern ihren Wert nicht absprechen wollen, wenn es um die Wiederherstellung geht: Wälder sollten dort renaturiert werden, wo sie und ihre Arten zurückgehen, aber sie sollten nicht im Mittelpunkt der Renaturierungsbemühungen stehen, wenn sie es nicht sind. Darüber hinaus betont eine aktuelle Studie von Mo et al. (2023), dass wir in der Lage sein werden, mehr Kohlenstoff zu speichern, wenn wir die bestehenden Wälder erhalten (und sie auswachsen lassen), als wenn wir eine Billion Bäume in Bereichen pflanzen, in denen derzeit keine Wälder stehen.

Wenn wir das nächste Mal den Begriff Renaturierung hören, denken wir vielleicht auch an eine schöne Wiese mit summenden Bienen und Schmetterlingen, die von einer Blüte zur nächsten fliegen.

Wenn Sie tiefer in das Thema eintauchen möchten, finden Sie hier die Studie von Staude und Kolleg*innen: Staude, I. R., Segar, J., Temperton, V. M., Andrade, B. O., de Sá Dechoum, M., Weidlich, E. W., & Overbeck, G. E. (2023). Prioritize grassland restoration to bend the curve of biodiversity loss. Restoration Ecology, e13931. https://doi.org/10.1111/rec.13931

Literatur

Hoekstra, J. M., Boucher, T. M., Ricketts, T. H., & Roberts, C. (2004). Confronting a biome crisis: global disparities of habitat loss and protection. Ecology letters, 8(1), 23-29. https://doi.org/10.1111/j.1461-0248.2004.00686.x

Jandt, U., Bruelheide, H., Jansen, F., Bonn, A., Grescho, V., Klenke, R. A., … & Wulf, M. (2022). More losses than gains during one century of plant biodiversity change in Germany. Nature, 611(7936), 512-518. https://doi.org/10.1038/s41586-022-05320-w

Mo, L., Zohner, C. M., Reich, P. B., Liang, J., De Miguel, S., Nabuurs, G. J., … & Ortiz-Malavasi, E. (2023). Integrated global assessment of the natural forest carbon potential. Nature, 1-10. https://doi.org/10.1038/s41586-023-06723-z

Pearce, E. A., Mazier, F., Normand, S., Fyfe, R., Andrieu, V., Bakels, C., … & Svenning, J. C. (2023). Substantial light woodland and open vegetation characterized the temperate forest biome before Homo sapiens. Science advances, 9(45), eadi9135. https://doi.org/10.1126/sciadv.adi9135

Staude, I. R., Segar, J., Temperton, V. M., Andrade, B. O., de Sá Dechoum, M., Weidlich, E. W., & Overbeck, G. E. (2023). Prioritize grassland restoration to bend the curve of biodiversity loss. Restoration Ecology, e13931. https://doi.org/10.1111/rec.13931

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